Die Impfstrategie der deutschen Bundes- und Landesregierungen zielt auf die freiwillige Impfung aller deutschen Staatsbürgerinnen und aller Menschen, die sich im deutschen Staatsgebiet aufhalten, um die Gesundheit möglichst vieler zu schützen, vorzeitige Tode zu verhindern und ein von Kontaktbeschränkungen und anderen krisenbedingten Einschränkungen befreites soziales Leben für alle möglichst schnell wiederaufnehmen zu können.
Derzeit sind in Europa zwei Impfstoffe zugelassen, weitere sind im Verfahren der Zulassung. Dennoch werden Impfstoffe über Wochen Mangelware bleiben. Die Durchimpfung einer Bevölkerung braucht Monate. Daher wurden Priorisierungsgruppen erstellt durch die Zusammenarbeit von Ständiger Impfkommission, Deutschem Ethikrat und der Nationalen Akademie der Wissenschaften Leopoldina.
Klar ist, es wird, bedingt durch noch unzureichenden Ausbau der Impfstoffproduktion und Produktionsausfällen, zu Verzögerungen kommen, selbst die sog. Priorisierungsgruppe 1 (Menschen mit besonders hohem Expositionsrisiko; Menschen mit engem Kontakt zu vulnerablen Gruppen) durch zu impfen. Es wird damit gerechnet, dass es mindestens bis Ende März dauern kann, diese Gruppe durch zu impfen. Es stellt sich daher die Frage, wer aus der Priorisierungsgruppe 1 zuerst geimpft werden soll und vor allem ob alle hinreichend im Voraus kontaktiert werden können.
Bei der ethischen Abwägung der Maßnahmen für eine Durchimpfung konkurrieren Güter wie die Aufrechterhaltung staatlicher Funktionen, insbesondere des Gesundheitssystems sowie das sehr hohe Risiko einer schweren bis tödlichen Erkrankung durch SARS-Covid‑2 bei Menschen hohen Alters und Vorerkrankungen. Hinzu kommt ein sehr hohes Infektionsrisiko durch berufliche Exposition bei Mitarbeiterinnen im Gesundheitswesen insbesondere in Notaufnahmen, auf Intensivstationen, auf Covid-Stationen, in der Palliativversorgung, im Rettungsdienst. Hinzu kommen die durch eine weiter lang andauernde Maßnahme harter Restriktionen im öffentlichen Leben Gefährdungen im Zuge von Bildungschancen und weiterer Daseinsvorsorge.
Das von der Ständigen Impfkommission (STIKO) formulierte Ziel ist die Abwendung eines größtmöglichen Schadens von der Gesellschaft unter Beachtung der Prinzipien von Selbstbestimmung, Gerechtigkeit und gesellschaftlicher Solidarität. Nur unter Achtung jeder dieser Prinzipien lassen sich ungerechtfertigte Diskriminierungen durch Priorisierung vermeiden. Deswegen wurde eine gemischte Priorisierungsgruppe 1 identifiziert, in der die Funktionsfähigkeit des Gesundheitssystems und gleichermaßen die Vermeidung von sehr schwerer Erkrankung und Tod berücksichtigt werden. Daher müssen Mitarbeiterinnen im Gesundheitswesen insbesondere an bestimmten Arbeitsstellen und Bewohnerinnen und Mitarbeiterinnen von Pflegeheimen gleichermaßen schnell durch Impfungen geschützt werden. Mit dieser Gruppenzuordnung verknüpft sich der wichtige Effekt, dass durch die Vermeidung von schweren Erkrankungen bei alten Menschen die Belastungen der Intensivstationen nachlassen.
Folgen für die Praxis des Impfens gerade auch in Niedersachsen:
(1) Auch unter der Bedingung von extrem wenig Impfdosen sollten Bewohnerinnen und Mitarbeiterinnen von Pflegeheimen und Mitarbeiterinnen von Krankenhäusern in besonders gefährdeten Bereichen gleichzeitig geimpft werden. Wird nur eine Gruppe der Priorisierungsgruppe berücksichtigt, kommt es zu nicht mehr begründbaren Ungerechtigkeiten. Von daher ist – schon aufgrund der Kühlungsprobleme – es geboten, alle zu Verfügung stehenden Dosen schnellstmöglich zu verimpfen, ggf. auch unter Weitergabe an andere Einrichtungen, die diese vor Ort jeweils benötigen und gebrauchen können. Verwaltungsrechtliche Hürden sind demgegenüber nachrangig.
(2) Da selbst die priorisierte Gesamtgruppe nur stufenweise geimpft werden kann, müssen als Begründung für die Differenzierungen regionale Inzidenzzahlen, Schwerpunktversorgung von Covid-Kranken u.a. herangezogen und kommuniziert werden.
(3) Die derzeitige Lage ist sehr dynamisch und wird so bleiben. Von daher sind kurzzeitig immer wieder Anpassungen unabdingbar. Klar kommuniziert werden sollte, dass Priorisierungen stets implizit Ungerechtigkeiten beinhalten. Diese Ungerechtigkeiten können nur gerechtfertigt und in der Bevölkerung akzeptiert werden, wenn sie ethisch und wissenschaftlich begründet werden. Die Kommunikation unvermeidbarer Ungerechtigkeiten hat landesweit, gut verständlich und rasch zu erfolgen.
(4) Es sollte vermieden werden, dass Zuteilungsentscheidungen nur regional und ad hoc erfolgen. Ein interessengeleiteter Run der Einflussreichsten auf den Impfstoff ist ethisch nicht legitimierbar. Die in einer parlamentarischen Demokratie eingeübte Lobbyarbeit von Verbänden ist in diesem Fall kein geeignetes Mittel, um das von der ständigen Impfkommission festgelegte Ziel, der Schadensvermeidung für die größtmögliche Anzahl von Menschen zu erreichen.
(5) Die Bürger*innen Niedersachsens, vor allem Menschen mit besonders hohem Risiko in der jetzigen Impfphase, müssen ihre Impfung einschätzen und planen können. Es bedarf umgehend leicht verständlicher und zugänglicher sowie transparenter Anmeldeverfahren.
(6)Missgunst ist nicht das ethische Gebot der Stunde – gerade auch im Blick auf schon geimpfte Bevölkerungsgruppen. Insbesondere gegenüber hochaltrigen Menschen kann angesichts kurzer Lebensfristen ein Appell an deren Geduld zynisch werden. Ihnen sollte deshalb – sobald gewiss ist, dass sie nicht ansteckend wirken – eine Nutzung ihrer grundrechtlich verbriefen Freiheitsrechte eingeräumt werden.